ZBW MediaTalk

vom ZBW MediaTalk-Team

Spätestens als Elon Musk Ende Oktober ein Waschbecken in den Fäusten haltend (“Let that sink in!”) und laut scherzend das Twitter-Hauptquartier in San Francisco betrat, machte sich in der Netzwelt eine allseits dunkle Vorahnung breit. Zuvor hatte der reichste Mann der Welt eine feindliche Übernahme des Kurznachrichtendienstes eingefädelt: 44 Milliarden US-Dollar sollte es ihn kosten, aus seinem Hobby ein neues Geschäft zu formen, das er seinem Business-Imperium (Tesla, SpaceX, SolarCity, Neuralink und andere) hinzufügen kann.

Er sei ein “free speech absolutist”, hatte der Milliardär zuvor die Welt wissen lassen. Sein Plan bestünde nun darin, Twitter zu einem Ort der unzensierten Redefreiheit zu machen. Wer zuvor wegen Verstoßes gegen die Community-Richtlinien sanktioniert und gesperrt worden war, werde über kurz oder lang eine Generalabsolution erhalten und auf die Plattform zurückkehren können. Auch Donald Trump – ehemaliger Präsident der Vereinigten Staaten und Mitanstifter des wohl bislang spektakulärsten Staatstreichversuchs in den USA – wurde der rote Teppich wieder ausgerollt.

Toxizität 2.0

Nun war Twitter nie ein kuscheliger Hort des gegenseitigen Verständnisses, der Rücksichtnahme und des gepflegten Austauschs von Argumenten. Twitter polarisiert seit Jahren. Doch seit vor allem in den westlichen Staaten die gesellschaftliche Spaltung immer weiter voranschreitet, nehmen Hass und Toxizität auf der Plattform stetig zu. Sie äußern sich in Bedrohungen, offenem Rassismus, Diskriminierung, Fake News, Doxxing und Cyber-Bullying. Nicht wenige deutsche Politiker haben daher in der jüngeren Vergangenheit den Stecker gezogen und dem Netzwerk den Rücken gekehrt.

Wie sich Twitter in den kommenden Jahren entwickeln wird, steht in den Sternen. Allerdings verheißen die wenigen Tage, seit denen Elon Musk am Ruder steht, nichts Gutes. Der neue CEO wirkt fahrig getrieben, nahezu erratisch. Seine erste Handlung am Steuer bestand darin, die mäßigenden Kräfte des Unternehmens zu feuern, um alsdann der verbliebenen Belegschaft widersprüchliche Befehle entgegenzubellen. Mittlerweile verfügt Twitter Inc. weder über eine Presseabteilung noch einen Data Protection Officer, was Datenschutzbeauftragten deutscher Unternehmen und Organisationen gleichermaßen die Schweißperlen auf die Stirn treibt: Denn das Betreiben von Twitter-Accounts lässt sich unter DSGVO-Gesichtspunkten nur noch mit sehr viel gutem Willen rechtssicher begründen.

Angst vor dem Reichweitenverlust

Ministerien, Behörden, aber auch der Wissenschaftssektor stehen nun vor einem Dilemma. Deutlich schwer wiegt nicht nur die moralische Verpflichtung, die Sachen zu packen, den jahrelang gehegten und gepflegten Account stillzulegen und Twitter leise, aber bestimmt, “adé” zu sagen. Auf der anderen Seite herrscht eine nachvollziehbare Angst des Reichweitenverlusts: Wie kann die Politik den Kontakt zur Öffentlichkeit halten? Wie können Universitäten, Museen und Bibliotheken ihrem öffentlichen Auftrag nachkommen, wenn sie sich gleichzeitig von ihren Online-Communities verabschieden?

Wikipedia, CC BY-SA 4.0

Es sind Fragen wie diese, die seit der Twitter-Dämmerung immer wieder einen Namen lancieren lassen: “Mastodon”. Derzeit sind es insbesondere Einzelpersonen, die hier eine neue Heimat suchen – auch und gerade auf die Mitglieder der Wissenschaftscommunity scheint die Kurznachrichtenalternative einen gewissen Reiz auszuüben.

Viel wurde in den vergangenen Tagen über die gar nicht einmal so neue Plattform geschrieben. 2016 vom deutschen Software-Entwickler Eugen Rochko gestartet, handelt es sich dabei um einen verteilten Mikrobloggingdienst, der dank seines offenen Quellcodes komplett in den Händen der Community liegt. Anders als Twitter ist Mastodon kein zentralistisch angeordnetes Gebilde, sondern ein Netzwerk, das aus Knotenpunkten (“Instanzen”) gebildet wird. Jede Instanz kann für sich alleine funktionieren oder eben ihre Arme dem großen Netzwerk entgegenstrecken, wo sie dann Teil des großen Fediverses wird, das heute nicht nur soziale Netzwerke, sondern auch Angebote für Videostreaming, Imagesharing und Ähnliches beheimatet. Theoretisch lässt sich jeder vorstellbare Dienst und jede Art von Content mittels kompatibler Open-Source-Kommunikationsprotokolle dem Fediverse hinzufügen – der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt! Theoretisch zumindest.

Krise als Chance

So kritisch die Entwicklungen rund um die Twitter-Übernahme zu bewerten sind, so waren sie gleichzeitig auch ein kollektives Erweckungserlebnis für die Offenheit im Digitalen. Der Gedanke an dezentrale Systeme, die in den Händen der Communities liegen – etwa für den wissenschaftlichen Austausch und Wissenschaftskommunikation – folgt unmittelbar dem Wunsch vieler nach mehr Offenheit in der Wissenschaft. Es gibt keine Gatekeeper, keine Paywalls, keine gewachsenen, unnachvollziehbaren Hierarchien: es gibt nur die Selbstorganisation der Community.

Daher war auch ZBW MediaTalk recht früh dem Charme von Mastodon erlegen. 2019 erstellten wir für das Blog zunächst den Account, vor ein paar Monaten starteten wir richtig durch und liefern seitdem dort regelmäßig Content aus der Bibliotheks- und Open-Science-Welt.

Und es läuft.

Doch nach einigen Monaten des Betriebs ist es vielleicht auch an der Zeit, ein Fazit zu ziehen; keine Bilanz der Performance, das wäre sicherlich verfrüht. Jedoch ein Resümee der bislang gesammelten Erfahrungen. Denn natürlich kommt auch das von vielen (vielleicht hin und wieder auch mit zu viel unkritischer Euphorie) gefeierte Netzwerk nicht ganz ohne Probleme daher. Nennen wir sie ungewöhnlich tiefe Fettnäpfe, in die Mastodon-Neulinge schnell tappen können; Dinge, die eher unter der Oberfläche lauern. Denn die gibt es.

Wir hatten uns seinerzeit für die Openbiblio-Instanz entschieden, auf der wir unseren Account erstellten. Rein theoretisch hätten wir uns aber auch für eine der Dutzenden offiziellen und wohl Hunderten inoffiziellen Instanzen entscheiden können. Oder für den Betrieb eines eigenen Servers. Warum also Openbiblio? Die Instanz wird von der Staatsbibliothek zu Berlin seit 2019 betrieben, das Team dahinter ist namentlich bekannt. Es gibt eine Datenschutzerklärung, Server-Regeln und dank der Wartung durch die IT-Abteilung der SBB kann man von einer relativen Zuverlässigkeit bei der Erreichbarkeit des Servers ausgehen. All das ist nicht selbstverständlich. Durch seine Dezentralität wurden Mastodon und das Fediverse allgemein mit strukturellen Schwächen geboren, die bis heute nicht ausgebügelt wurden.

Drei kritische Punkte

1. Datenschutz

Da wäre zunächst einmal das Thema Datenschutz. Anders als bei kommerziellen Plattformen, die für den Verkauf zielgerichteter Werbung das Verhalten ihrer Nutzer:innen bis ins kleinste Detail tracken, protokollieren und verarbeiten, sind Mastodon-Instanzen von solch einer pauschalen Datensammelwut freigestellt. Ist im Fediverse daher Datenschutz automatisch garantiert? Mitnichten. Der oder die Admin hat per Knopfdruck einen Einblick in alles – jederzeit: Auf Mastodon werden Beiträge und Nachrichten nicht einmal Ende-zu-Ende-verschlüsselt, weshalb die meisten Instanzen heute präventiv warnen, wenn jemand Anstalten macht, eine DM zu versenden: “Teile keine sensiblen Informationen über Mastodon!” Auch die Art und Weise, wie private User-Daten vor den Augen Dritter geschützt werden, bleibt jedem Admin überlassen. Bei manchen Servern fehlt die Nennung von Ansprechpartner:innen bei datenschutzrechtlichen Fragen, bei wieder anderen wurde es komplett verabsäumt, überhaupt eine nennenswerte Privacy Policy anzugeben.

2. Datensicherheit

Nächstes Stichwort: Datensicherheit. Auch sie hängt vollkommen vom Knowhow und Engagement der Server-Admins ab. Es braucht nicht viel, um eine Mastodon-Instanz zum Leben zu erwecken. Es braucht aber auch nicht viel, um sie wieder zu zerstören. Diese Erfahrung musste etwa der Gründer des Social.Bonn-Servers im Jahr 2017 machen. Beim Versuch, bei seiner Instanz ein Update einzuspielen, crashte das ganze System: Alle Postings und alle bis dahin angelegten Accounts waren unwiederbringlich verloren. Ein Backup gab es nicht.

Gehen die Admins der gewählten Instanz sorgsam mit ihr um? Spielen sie kritische Fixes am Code zeitnah ein? Machen sie überhaupt noch Updates? Können sie eine regelmäßige Datensicherung gewährleisten? Von außen sind diese Fragen fast nie zu beantworten, was eine allzu unkritische Wahl einer Instanz zum Glücksspiel werden lässt. Da hilft auch nicht der Hinweis, dass man ja jederzeit die Instanz wechseln kann, denn wann ist der richtige Zeitpunkt dafür? So sehr die Welt den großen kommerziellen Plattformen misstraut: Einen kompletten Datenverlust hat sie dort wohl kaum zu befürchten.

3. Moderation

Ein dritter Kritikpunkt betrifft das Klima – den sozialen Umgang auf der Plattform. Wie wird sichergestellt, dass die Instanz ein Ort des gesitteten Umgangs bleibt? Mastodon ist von Haus aus mit Features ausgestattet, die es den Mitgliedern erlauben, anstößige oder kriminelle Inhalte zu melden. Doch wie und ob Admins auf Hinweise reagieren, bleibt zunächst einmal allein ihnen überlassen. Das Fediverse kennt keinen gemeinsamen Wertekanon für Content-Beurteilung, es gibt keine allgemeingültigen Community-Guidelines und es gibt auch kein übergeordnetes Gremium, das Mitglieder bei ausbleibendem Handeln oder Falschverdächtigungen zur Klärung anrufen können. Was Mobbing ist, was Fake News sind, wo Unflätigkeit aufhört, und offener Hass beginnt – all das entscheiden die Admins der jeweiligen Server zunächst einmal in Eigenregie. Manchmal werden ihre Regeln explizit genannt, manchmal nicht. Je nach Größe einer Instanz und vorhandenen Ressourcen wird Content-Moderation weiter erschwert. Die großen kommerziellen Netzwerke setzen auf Künstliche Intelligenz und outgesourcte Moderationsteams, um Böses, Schmutziges und Verbotenes aus den Timelines zu fischen. Wie soll diese Aufgabe etwa eine einzelne Person rund um die Uhr übernehmen, wenn sie eine Tausende Mitglieder starke Instanz betreut? Und dann betrifft die Toxizität ja nur die eine Seite der Aufsicht: Über den Umgang mit urheberrechtlich geschütztem Content haben wir da noch gar nicht gesprochen.

Jetzt ist Kooperation gefragt

Datenschutz, Datensicherheit und Moderation – dies sind die drei kritischen Schwachstellen bei Mastodon, die es bei der Wahl einer Instanz zu beachten gilt. Es gibt stets nur eine Annäherung an Sicherheit (daher an dieser Stelle auch noch einmal der Dank an die SBB Berlin!), aber keine Garantien. Wer auf Nummer sicher gehen möchte, muss sich konsequenterweise auf selbst-gehostete Instanzen verlassen.

Der Betrieb eigener Instanzen als Gegenentwurf zur Nutzung der Angebote der kommerziellen Player klingt zunächst wie eine große Verheißung in einem Wissenschaftsumfeld, das zusehends offener, transparenter und unabhängiger wird. Dies auch in Anlehnung an aktuelle Bestrebungen, dass der Betrieb von Open-Science-Infrastrukturen komplett in der Hand wissenschaftlicher Communities liegt (“Scholary-owned”) oder zumindest unter deren Kontrolle bzw. “wissenschaftsgeleitet” (“Scholarly-led”) ist. Um ein solches Vorhaben aber Realität werden zu lassen, müssen Einrichtungen stärker kooperieren, sich verständigen und eine gemeinsame Vorstellung davon entwickeln, wie so ein Netzwerk aussehen könnte und welche Werte es lebt. Und zwar jetzt. Um die drei strukturellen Schwachpunkte zu minimieren, braucht es Konsolidierung, klare Zuständigkeiten und Transparenz. Vorstellbar wäre etwa die Gründung eines Konsortiums, zu dem sich mehrere wissenschaftliche Häuser einrichtungs- oder zielgruppenspezifisch zusammenschließen, um gemeinschaftlich eine für alle sichere Instanz zu betreiben. Da es sich bei Mastodon um ein Open-Source-Projekt handelt, bestünde sogar die Möglichkeit, die Entwicklung des Netzwerks aktiv voranzutreiben oder anderweitig zu fördern.

Alternativ oder ergänzend bietet sich auch die Entwicklung eines Zertifizierungsprozesses für bestehende und neue Instanzen an – etwa die des wissenschaftlichen Sektors. Dazu würde ein gemeinsamer Kriterienkatalog definiert, dessen Einhaltung den angemeldeten Mitgliedern eine gewisse Sicherheit bietet. Gibt es konkrete Ansprechpersonen? Wird der Datenschutz eingehalten? Werden Datenbestände regelmäßig gesichert? Wird moderiert und wenn ja, auf Grundlage welcher Regeln? Mit nur einem Siegel, einer formellen Bescheinigung, wären viele Fragen für Außenstehende beantwortet. Schon heute gibt es zaghafte Versuche einer ersten Regulierung: So listet die offizielle Mastodon-Website derzeit nur solche Server auf, die gewisse Kriterien erfüllen, wobei es sich aber eher um rudimentäre Auflagen handelt.

Dies sind nur einige Vorschläge. Sicher gibt es noch manch kluge Ideen da draußen zum Thema, die dabei helfen können, Mastodon zu einer tragfähigen Twitter-Alternative werden zu lassen – oder zu noch viel mehr. Sicher ist: Das Momentum ist genau jetzt da, sich dazu Gedanken zu machen.

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