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von Natascha Chtena und Isabelle Dorsch

Die Studie “The neglect of equity and inclusion in open science policies of Europe and the Americas” wurde im November 2023 veröffentlicht und verwendete einen qualitativen Dokumentenforschungsansatz. Sie kommt unter anderem zu dem Ergebnis, dass sich Open-Science-Policies in der Regel auf eine begrenzte Anzahl von Praktiken konzentrieren, insbesondere auf Open Access und Open Data, und den demokratischen, partizipatorischen und inklusiven Ethos von Open Science nicht wirksam erfassen.

Zwei der Autorinnen, Natascha Chtena, Postdoc im Scholarly Communications Lab an der Simon Fraser University, und Isabelle Dorsch, Postdoc an der ZBW und im Scholarly Communications Lab, geben in diesem Interview Auskunft über ihre Ergebnisse.

Welches sind die wichtigsten Ergebnisse eurer Studie?

Unsere Studie enthält drei Hauptergebnisse. Erstens haben wir festgestellt, dass sich die politischen Dokumente zu Open Science (OS) überwiegend auf die Förderung von zwei spezifischen Aspekten von OS konzentrieren, nämlich Open Access und Open Data. Mit anderen Worten: Der Schwerpunkt liegt auf den Ergebnissen und nicht auf den Prozessen (wie der Open Methodology und der Einbeziehung gesellschaftlicher Akteure), was das emanzipatorische und demokratische Potenzial von Open Science erheblich einschränkt. Zweitens haben wir herausgefunden, dass OS-Policies, obwohl sie die Vorteile von OS für die Gesellschaft anpreisen, das Engagement und die Beteiligung der Bürger an OS vernachlässigen – insbesondere in Nordamerika und Westeuropa – und dass es auch an konkreten Anleitungen fehlt, wie man verschiedene Öffentlichkeiten sinnvoll in OS-Prozesse einbinden könnte. Drittens haben wir festgestellt, dass die Konzepte Gleichberechtigung, Vielfalt und Inklusion in vielen Strategiepapieren nicht vorkommen, und selbst wenn sie vorhanden sind, werden sie nicht in umsetzbare Empfehlungen für Forschende und andere OS-Akteurinnen umgesetzt. Insgesamt zeigt sich, dass es eine Diskrepanz zwischen der Konzeptualisierung von OS und ihrer Umsetzung in Politik und regulatorischem Rahmen gibt.

Welche Probleme habt ihr in Bezug auf Open-Science-Policies festgestellt?

Eine wichtige Erkenntnis aus unserer Studie ist, dass einige der zentralen Werte von OS (zum Beispiel der Wunsch, zum Gemeinwohl beizutragen, der Wunsch, Wissensklüfte zwischen und innerhalb von Ländern zu überbrücken) in den aktuellen Policies nicht gut zum Ausdruck kommen. Die meisten Praktiken und Maßnahmen, die gefördert werden, sind eher nach innen gerichtet und dienen einem engen Interessenkreis. Hinzu kommt, dass die Mehrheit der Akteurinnen, die die OS-Policies und -Leitlinien veröffentlichen, derzeit in Europa ansässig sind, obwohl OS eine globale Bewegung ist, die verschiedene Gruppen mit unterschiedlichen Bedürfnissen und Zielen umfasst. Auch wenn dies de facto kein “Problem” darstellt, so ist es doch ein Thema, das es wert ist, hinterfragt zu werden.

Habt ihr in eurer Studie etwas Überraschendes herausgefunden?

Wir waren etwas überrascht, dass in den meisten Dokumenten nicht auf die Bedeutung der Einbeziehung verschiedener Wissenssysteme und Perspektiven in das OS-Kontinuum eingegangen wurde. Dieses Versäumnis ist besonders bemerkenswert, wenn man bedenkt, wie wertvoll Partnerschaften zwischen verschiedenen Wissenssystemen sowohl für den wissenschaftlichen Fortschritt als auch für die wissenschaftliche Politikgestaltung sein können. Wir waren auch überrascht, dass Strategien für die mehrsprachige Wissensproduktion und -verbreitung in den untersuchten Dokumenten weitgehend fehlten.

Welche Schlussfolgerungen würdet ihr aus eurer Studie ziehen? Welchen Rat würdet ihr geben?

Wir haben eine starke Tendenz zur Hierarchisierung von OS-Aspekten – und damit auch von politischen Zielen – entsprechend ihrem wahrgenommenen Nutzwert und ihrer Bedeutung beobachtet, was einerseits dem pragmatischen Charakter der Politikgestaltung entspricht, andererseits aber die Illusion entstehen lässt, dass die Unterstützung eines Ziels (zum Beispiel offene und interoperable Infrastrukturen) auf Kosten anderer Ziele (zum Beispiel öffentliches Engagement und Partizipation) gehen muss. Diese können und sollten jedoch gleichzeitig gefördert werden, wenn das volle Potenzial von OS ausgeschöpft werden soll. Vergleicht man unsere Ergebnisse mit der Umsetzungsebene von OS, so zeigt sich, dass der starke Fokus auf Open Access und Open Data in den OS-Policies tendenziell mit dem übereinstimmt, was bereits auf breiterer Ebene umgesetzt und angewendet wird. Praktiken wie Preregistrierung, Open Methodology oder Open Peer Review sind noch nicht weit verbreitet, etabliert oder standardisiert. Fallstudien oder bestimmte Disziplinen bereiten gerade erst die Basis dafür, diese Praktiken zu etablieren, sodass ihre Einbeziehung in breit angelegte Policies schwieriger sein kann. Neue Policies werden jedoch oft auf der Grundlage bestehender Policies entwickelt, was zu einer bloßen Reproduktion des Status quo führen kann. Darüber hinaus hat uns die Technikgeschichte gelehrt, dass die nachträgliche Integration von Werten wie Gleichberechtigung und Inklusion in bestehende soziotechnische Systeme mit Hindernissen, Herausforderungen und Hemmnissen verbunden ist.

Die UNESCO-Empfehlung zu Open Science versucht zwar, einige dieser Probleme anzugehen, indem sie eine erweiterte Definition von Open Science vorschlägt und Aspekte – oder “Säulen” – von Open Science hervorhebt, die oft vernachlässigt werden (zum Beispiel die offene Einbindung gesellschaftlicher Akteurinnen), aber unsere Ergebnisse deuten darauf hin, dass noch ein langer Weg vor uns liegt und wir ohne gemeinsame Anstrengungen Gefahr laufen, eine Version von Open Science zu verwirklichen, die viele der Probleme und Ungerechtigkeiten des “traditionellen” Wissenschaftssystems fortschreibt. Anhaltende Gespräche zwischen Forschenden, politischen Entscheidungsträgerinnen und Interessenvertreter:innen der Gemeinschaft sind in dieser Hinsicht von entscheidender Bedeutung, weshalb wir alle Anstrengungen unternehmen, um unsere Ergebnisse einem möglichst breiten Publikum zugänglich zu machen.

Originalveröffentlichung : Die Vernachlässigung von Gerechtigkeit und Inklusion in der Politik der offenen Wissenschaft in Europa und Amerika.

Die Studie ist Teil des VOICES-Projekts (Value of Openness, Inclusion, Communication, and Engagement for Science in a Post-Pandemic World), das darauf abzielt, neue empirische Belege für den Wert der Öffnung der Wissenschaft gegenüber anderen Wissenschaftlerinnen und der Öffentlichkeit während und nach der COVID-19-Pandemie zu untersuchen und weiterzugeben. (Weitere Informationen).

Unser Projektteam besteht aus: Juan Pablo Alperin (PI), Germana Barata (Co-PI), Isabella Peters (Co-PI), Stephen Pinfield (Co-PI), Alice Fleerackers (Postdoctoral Fellow), Natascha Chtena (Postdoctoral Fellow), Monique Oliveira (Postdoctoral Fellow), Isabelle Dorsch (Postdoctoral Fellow), Melanie Benson Marshall (Postdoctoral Fellow)

Dieser Text ist eine Übersetzung aus dem Englischen.

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Über die Autorinnen

Natascha Chtena ist Postdoctoral Research Fellow im Scholarly Communications Lab an der Simon Fraser University, Kanada. Sie ist eine ehemalige Journalistin und Zeitschriftenredakteurin mit langjährigem Interesse an offenem Wissen, demokratischer Beteiligung und öffentlicher Wissenschaft. Sie ist auch auf ORCID, LinkedIn und X zu finden.
Porträt Natascha Chtena: Fotograf: Jonathan Mauer©

Isabelle Dorsch ist Postdoktorandin an der ZBW – Leibniz-Informationszentrum Wirtschaft in Kiel und im Scholarly Communications Lab, Kanada. Open Science, Szientometrie, wissenschaftliche Kommunikation, soziale Medien und Metrics Literacies sind Forschungsfelder, die sie erforscht oder für die sie sich interessiert. Sie ist auch auf ORCID, LinkedIn and BlueSky zu finden.
Porträt Isabelle Dorsch: ZBW©, Fotograf: Pepe Lange

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