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von Claudia Sittner

Eine internationale Gruppe von elf Verhaltensforschenden aus acht Ländern (Australien, Neuseeland, Deutschland, Österreich, Polen, USA, Niederlande) hat sich kürzlich im Bericht „Nudging Open Science“ dieser Frage angenommen und Handlungsempfehlungen für unterschiedliche Gruppen im wissenschaftlichen System entwickelt. Jede dieser Gruppen verortet sie und gibt praktische Tipps, wer die jeweilige Gruppe wie nudgen kann, damit sie mehr Open Science praktiziert. Wissenschaftliche Bibliotheken sind eine dieser Gruppen. Die weiteren Gruppen sind Forschende, Studierende, Fachbereiche und Fakultäten, Universitäten, Zeitschriften und Förderorganisationen. Der Bericht enthält dabei allerdings keine Ansätze, wie Bibliotheken selbst andere Stakeholder:innen aktiv nudgen können. Wir stellen Ansätze und Ergebnisse des Berichtes vor und legen unser besonderes Augenmerk dabei auf die wissenschaftlichen Bibliotheken.

Was ist Nudging?

Der Ansatz des Nudgings kommt aus der Verhaltensforschung. Er besagt, dass man durch einen sanften Schubs (Nudging = Schubsen/Anstupsen) Verhaltensänderungen herbeiführen kann, ohne einen strengen Zwang oder Vorschriften. Bei Nudging handelt es sich „um kleine, leicht zu vermeidende Änderungen im Entscheidungsumfeld einer Person, die das Verhalten auf vorhersehbare Weise verändern, ohne Optionen zu verbieten oder wirtschaftliche Anreize zu nutzen“, so die Definition im Bericht.

Klassisches Beispiel ist das Thema Organspende. In Schweden ist beispielsweise jede:r per Definition Organspender:in. Wenn eine Person dies nicht möchte, muss sie aktiv widersprechen. Das führt dazu, dass der prozentuale Anteil der Organspender:innen in Schweden wesentlich höher ist als in Deutschland, wo nicht jede:r vom Gesetz her Organspender:in ist.

Nudging Open Science

Nun hat die Gruppe von Verhaltensforschenden Überlegungen dazu angestellt, wie man das Potenzial des Nudgings dazu nutzen könnte, um Open Science im wissenschaftlichen Ökosystem weiter voranzubringen. Ihre These: Ob sich Forschende und Institutionen für Open-Science-Praktiken entscheiden, ist nicht unbedingt eine Frage rationaler Entscheidungen. Im Gegenteil: Die meisten Entscheidungen werden routinemäßig im Zuge von emotionalen, automatischen oder impulsiven Prozessen getroffen, die oft von psychosozialen Faktoren beeinflusst werden (Beispiel: Gruppenzwang). Wird eine Person vor eine Entscheidung gestellt, wählt sie meist den Weg des geringsten Widerstandes beziehungsweise des kleinsten Aufwandes. Der Status Quo wird erhalten.

Das betrifft auch Entscheidungen, die Forscher:innen und Institutionen treffen, wenn sie definieren, wie sie Forschung durchführen, darüber berichten, diese bewerten, veröffentlichen oder finanzieren (zum Beispiel in Bezug auf Preregistrations, das Veröffentlichen von Preprints oder Open Data). „Die menschliche Psychologie steht im Mittelpunkt jeder Entscheidung, sei es beim Kauf von Zahnpasta, bei der Durchführung wissenschaftlicher Studien oder bei der Bewertung eines Forschungsprojekts“, so die Autor:innen. Dabei sehen sie großes Potenzial darin, durch Nudging den Einsatz und die Fortführung offener wissenschaftlicher Praktiken zu verbessern. Essenziell sind dabei Maßnahmen an jedem der Knotenpunkte, damit die Änderungen sich auch wirklich durchsetzen können.

Für jeden der Knotenpunkte erstellt der Report ein Profil mit deren Psychologie und beschreibt ihre Rolle in der wissenschaftlichen Community. Schließlich werden Maßnahmen vorgeschlagen, wie und von wem diese sieben Gruppen zu mehr Open Science angestupst werden können.

Knotenpunkt wissenschaftliche Bibliotheken

Aus Sicht der Autor:innen verhindern im Wesentlichen zwei Dinge umfassende Änderungen hin zu mehr Open Science in Bibliotheken: “administrative and financial status quos, and a drive to satisfy customers (students and staff)“ (übersetzt etwa: der administrative und finanzielle Status quo sowie das Bestreben, Nutzer:innen – Studierende und Mitarbeitende – zufrieden zu stellen). Hier merkt man allerdings, dass dem Bericht vielleicht ein etwas veraltetes Bild von Bibliotheken zugrunde liegt, gibt es doch in modernen wissenschaftlichen Bibliotheken viele Open-Science-Enthusiast:innen, die den Wandel vorantreiben.

Der Bericht zeigt weiter Felder auf, in denen wissenschaftliche Bibliotheken Open Science fördern können:

  • Richtlinien, Schulungen und Roadmaps für Forschende erstellen, damit sie ihre Forschungsarbeit transparenter machen können.
  • Bearbeitungsgebühren für Open-Access-Publikationen übernehmen beziehungsweise Open-Access-Publikationen finanzieren.
  • Freien Zugang zu den von der jeweiligen Institution generierten Forschungsergebnissen fördern.
  • Sich für FAIRe Datensätze in eigenen Repositorien einsetzen.
  • Strategien für das Forschungsdatenmanagement entwickeln, damit Daten nachnutzbar und nachhaltig erfasst werden sowie zugänglich sind.
  • Eine Online-Infrastruktur einrichten, die es vereinfacht, dass Publikationen mit Daten und Code gespeichert werden.
  • Open Educational Resources: Bibliotheken können Lehrbücher, Vorlesungsskripte, Klausuren, Videos oder andere Medien erstellen und verfügbar machen.

Diese Liste bringt vermutlich für Mitarbeitende in modernen und Open-Science-affinen wissenschaftlichen Bibliotheken wenig Neues, aber bestärkt sie vielleicht in dem, was sie bereits tun.

Wie lassen sich wissenschaftliche Bibliotheken „anstupsen“?

Im Großen und Ganzen stellt der Bericht zwei Personengruppen heraus, die Bibliotheken in Bezug auf Open-Science-Praktiken nudgen können:

  1. Studierende (oder andere Einzelpersonen): könnten sich laut dem Bericht direkt oder per E-Mail an Bibliotheksmitarbeiter:innen wenden und ihnen Vorschläge zur Umsetzung offener Praktiken machen.
  2. Forschende: Wenn Forschende Beiträge in Bibliotheks-Repositorien speichern, können sie nach Ansicht der Autor:innen fragen, wie andere Daten, etwa Preregistrations, Preprints oder Datensätze, mit ihren Beiträgen veröffentlicht werden können. Um die Relevanz der zugehörigen Daten herauszustellen, könnten Forschende auch anbieten, bei Forschungsdatenmanagement-Workshops zu unterstützen. Das Vorschlagen von Open-Access-Finanzierungsinitiativen ist ein weiteres Feld, auf dem Forscher:innen sich betätigen könnten.

Ob es allerdings sinnvoll und realistisch ist, von Gruppen mit einem geringen Zeitbudget (Studierende, Forschende) und kaum einem Anreiz, abseits von persönlichem Engagement, zu erwarten, Bibliotheken anzustupsen, sei einmal dahingestellt. Auf der anderen Seite sind Bibliotheken selbst in vielen Fällen engagiert, den kulturellen Wandel in Richtung Open Access, Open Educational Ressources & Co. aktiv voranzubringen. Vielleicht rührt die hier klaffende Lücke auch daher, dass sich die Ideen von Verhaltensforschenden darüber, wie moderne wissenschaftliche Bibliotheken agieren, stark von der heutigen Praxis dort unterscheiden?

Fazit: Durch Nudging zu mehr Open Science?

Überlegungen dazu, wie Menschen Entscheidungen treffen, und die Anwendung des Nudgings aus der Verhaltensforschung auf Open Science sind ein interessanter Ansatz. Er bewirkt einen Perspektivenwechsel bei dem:der Betrachter:in und führt dazu, dass er:sie den eigenen Handlungsspielraum und die eigene „Macht“ realisiert, durch Verhalten Veränderungen anzustoßen. Im Prinzip geht es darum, durch eine Nachfrage nach offenen Praktiken bei Bibliotheken und anderen Knotenpunkten des wissenschaftlichen Ökosystems ein Umdenken zu bewirken. Die genannten Maßnahmen und Ansätze sind dabei weder neu, noch überraschend, aber sie eröffnen Handlungsfelder für besonders engagierte Individuen und einzelne Personengruppen.

Für die Leser:innen oder aus Perspektive von an Open Science interessierten Bibliotheken wäre eine Aufteilung nach handelnden Gruppen hilfreicher gewesen, tendiert der:die Einzelne doch dazu, sich zu fragen: Was kann ich tun? Nichtsdestoweniger eröffnet das Nudging im Bereich Open Science andere Optionen, sofern sich genug Nutzer:innen dafür begeistern können, den akademischen Knotenpunkt ihrer Wahl anzustupsen. Bibliotheken könnten also den Bericht als Anlass nehmen, Nudging systematisch anzuwenden, um Open Science zu fördern.

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Über die Autorin:

Claudia Sittner studierte Journalistik und Sprachen in Hamburg und London. Sie war lange Zeit Referentin beim von der ZBW herausgegebenen Wirtschaftsdienst – Zeitschrift für Wirtschaftspolitik und ist heute Redakteurin des Blogs ZBW MediaTalk. Außerdem ist sie freiberufliche Reise-Bloggerin. Sie ist auch auf LinkedIn, Twitter und Xing zu finden.
Porträt: Claudia Sittner©

Claudia Sittner studierte Journalistik und Sprachen in Hamburg und London. Sie war lange Zeit Referentin beim von der ZBW herausgegebenen Wirtschaftsdienst – Zeitschrift für Wirtschaftspolitik und ist heute Redakteurin des Blogs ZBW MediaTalk. Außerdem ist sie freiberufliche Reise-Bloggerin. (Porträt: Claudia Sittner©)

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