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von Birgit Fingerle

Am 23. Mai 2019 wurde die Studie „AHEAD – Internationales Horizon-Scanning: Trendanalyse zu einer Hochschullandschaft in 2030“ veröffentlicht. Durchgeführt wurde sie im Auftrag des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) vom Forschungsinstitut für Bildungs- und Sozialökonomie (FiBS) zusammen mit dem HIS-Institut für Hochschulentwicklung (HIS-HE) in zwei Phasen. Nach einer ersten Phase unter anderem mit Voruntersuchungen zu den drei Bereichen Wissens- und Kompetenzanforderungen, Didaktik und technologische Entwicklungen wurden diese Informationen in der zweiten Phase zu Zukunftsszenarien verdichtet. Diese Szenarien wurden mit Expertinnen und Experten aus dem Hochschulbereich und der Politik sowie Studierenden validiert und weiterentwickelt. Darüber hinaus wurden innovative Praxisbeispiele recherchiert, die zu mehr Offenheit in der Hochschulbildung beitragen und als mögliche Zukunftsmodelle dienen.

Neue Studienmodelle gewinnen an Bedeutung

Die Ergebnisse der Studie legen den Bedeutungsgewinn neuer Studienmodelle aufgrund der Auswirkungen der Digitalisierung und zukünftiger Anforderungen des Arbeitsmarktes nahe. Es wird davon ausgegangen, dass die Mehrheit der Absolvierenden aufgrund dieser Dynamik mehrmals während ihres Lebens ihren Karriereweg wechseln wird. Die absehbaren Veränderungen des Lernverhaltens haben erhebliche Auswirkungen auf die Anerkennung von Kompetenzen und Lernleistungen in Form von Hochschulabschlüssen und zugleich auf die Steuerung und Finanzierung von Hochschulen. Die vier unterschiedlichen zu erwartenden zukünftigen Lernmodelle wurden in der Studie nach Spielzeugen benannt.

Tamagotchi – Der Klassiker

„Tamagotchi“ bezeichnet das weiterhin vorhandene „klassische“ Studienmodell, in dem unmittelbar im Anschluss an die Schule das Studium aufgenommen wird. Die Hochschule stellt hier ein geschlossenes Ökosystem dar, das Studierende beim Absolvieren eines Studiengangs unterstützt. Hierbei wird davon ausgegangen, dass im Studium erworbene Kenntnisse und Fähigkeiten die Lernenden befähigen, sich auf Basis eines zukunftssicheren Kompetenzprofils flexibel an zukünftige Anforderungen anzupassen.

Jenga – verkürztes Erststudium mit späterer Erweiterung

„Jenga“ hingegen bezeichnet ein verkürztes Erststudium, das ein solides Fundament an Wissen und Kompetenzen vermittelt. Es wird später im Lebensverlauf stetig durch neue Lernblöcke erweitert, die von verschiedenen Bildungsanbietern zur Verfügung gestellt werden. Das „Jenga“-Modell beruht auf der zentralen Idee, dass das traditionelle Hochschulstudium nicht ausreichend flexibel und integrativ ist, um eine zukunftssichere Ausbildung darzustellen; das Studium daher breiter und länger gedacht werden müsse. Auch wenn nur der erste Teil an der eigenen Hochschule absolviert werden würde, so würde doch die Begleitung der Studierenden über den gesamten Verlauf des Studienprogramms durch sie erfolgen. Die Partnerschaft mit Kollegs und anderen Anbietern, eine digitale Studierendenverwaltung mit digitalen Bezahlsystemen, digitale Zertifikate und „stapelbare“ Digitalteilzeugnisse an der Hochschule sind erforderlich, um dies später als Gesamtstudium anerkannt zu bekommen. Mit „Jenga“ steigen die technischen Anforderungen an Hochschulen, da digitale Lehr- und Lerninhalte (zum Beispiel in Form von Webinaren, interaktiven Videos und Virtual-Reality-Szenarien) und Systeme angeboten werden müssen, die überwiegend online stattfindende Lernphasen ermöglichen. Auch didaktisch ergeben sich so neue Szenarien, und virtuelles Tutoring oder Peer-Betreuung gewinnen an Bedeutung.

Lego – individuell Bildungsbausteine kombinieren

„Lego“ wurde als Bezeichnung für ein Studienmodell gewählt, das keine kompakte Einheit an einer Hochschule darstellt, sondern aus individuell kombinierbaren Bildungsbausteinen besteht, die die Lernenden bei unterschiedlichen Bildungsanbietern nachfragen und die zu einem Studienabschluss zusammengesetzt werden. Welche Lernphasen beziehungsweise Lerneinheiten sie durchlaufen, entscheiden die Studierenden selbst. Die Hochschule hat in diesem Modell neben der Bereitstellung der Lerneinheiten die Aufgabe, diese Lernphasen formal anzuerkennen. Zertifikate und digitale Kompetenznachweise (etwa Open Badges) dienen als Nachweis der Lernleistung. Gegebenenfalls werden institutionenunabhängige Speicherplätze wie Blockchain-Technologie für das Speichern von Dokumenten aus Sicherheitsgründen bevorzugt. Die Herausforderung für die Institution Hochschule besteht in diesem Modell darin, dass sie in den Hintergrund rückt und vor allem als Anbieter individualisierter und individualisierbarer Lernräume sowie als Bildungsberater sichtbar wird. Digitale Plattformen vernetzen Studierende, auch international, und mittels digitaler Tools organisieren Studierende ihr Studium und haben unter anderem durch Learning-Analytics-Methoden ihre Lernleistung im Blick.

Transformer – spätes, flexibles Studium

„Transformer“ nennt sich das vierte Studienmodell, in dem ein späterer Übergang an die Hochschule, beispielsweise nach einem Ausbildungsabschluss und Erwerbstätigkeit, erfolgt. Die Studierenden in diesem Modell brauchen ein flexibles Studium, das didaktisch zwischen Phasen der Fremd- und Selbstbestimmung alterniert.

Keine Disruption der Hochschullandschaft

Die Studie geht davon aus, dass die Hochschullandschaft insgesamt kein Opfer einer Disruption aufgrund der Digitalisierung wird. Ebenso haben die hohen Erwartungen an Innnovationen, wie etwa MOOCs, die Hochschulbildung bisher nicht revolutioniert, sondern Hochschulen haben diese in ihre bisherigen Studienangebote integriert. Wohl aber können die digitalen Entwicklungen zu einer neuen Rollendefinition der Hochschulen führen und dazu, dass innovative Modelle und fundamental neue Bildungsanbieter die Hochschullandschaft bereichern.

Trotz der steigenden Bedeutung von Online-Lehre und virtuellem Raum gehen die befragten Expertinnen und Experten davon aus, dass Präsenzphasen wichtig bleiben und es auch im Jahr 2030 Campus-Hochschulen geben wird, während sich daneben reine Online-Hochschulen etablieren. Dennoch werden sich auch die Raumkonzepte auf dem Campus verändern: traditionelle Hörsäle treten in den Hintergrund und multifunktionelle Räume mit flexiblen Nutzungsmöglichkeiten zur Unterstützung neuer Lernszenarien in den Vordergrund. Denkbar sind auch Räume wie „Lerncafés“ und „Fablabs“ außerhalb des Campus´, in denen sich Studierende treffen.

Öffnung der Hochschulbildung

Eine Herausforderung des 21. Jahrhunderts ist, sicherzustellen, dass alle Teile der Gesellschaft von der Digitalisierung profitieren. Die Digitalisierung in Verbindung mit dem demographischen Wandel bedeutet laut der Studie, dass die Hochschulbildung für alle geöffnet werden muss. Dafür sind mehr Möglichkeiten, in verschiedenen Lebensphasen und mit sehr unterschiedlichen Bildungsbiographien eine Hochschulausbildung zu beginnen, erforderlich. Da Lernen auch innerhalb von Wirtschaftsunternehmen stattfindet, ist auch eine bessere Integration von Lernerfahrungen zwischen Firmen und Hochschulen sinnvoll. In Zusammenhang mit der Öffnung der Hochschulbildung ist auch die von einigen der Expertinnen und Experten kritisierte Selbstverständlichkeit, mit der häufig vorausgesetzt wird, dass die Studierenden die notwendige Hardware wie Laptop oder Mobiltelefon besitzen, zu sehen.

Neue Technologien warten auf den Praxiseinsatz

Neue Technologien wie Virtual Reality und Augmented Reality können die Lehre bereichern und ein Studium mit allen Sinnen ermöglichen. Bislang befindet sich ihr Praxiseinsatz allerdings noch in der Phase des Prüfens und der Umsetzung von Prototypen. Für einen effektiven Einsatz der verschiedenen technologischen Möglichkeiten müssen technische Infrastruktur und Organisationsprozesse zusammenspielen sowie das Lehrpersonal geschult und unterstützt werden. Aus Sicht der für die Studie Befragten gibt es derzeit allerdings Engpässe bei der Bereitstellung von notwendigen Ressourcen und dem Willen, Verwaltungs-, Raum- und Lernszenarien in der Hochschule zu verändern.

Dies mag auch daran liegen, dass zumindest in der ersten Phase der Umstellung und Umsetzung die Kosten für die Institution steigen, da sich unter anderem der Aufwand für die technische Infrastruktur erhöht. Daher sollte den Digitalisierungsstrategien frühzeitig ein entsprechender Stellenwert beigemessen und ein innovationsfreundliches Umfeld an der Hochschule geschaffen werden, das es erlaubt, mit der Umsetzung von neuen Lehrszenarien zu experimentieren.

Hochschulen profitieren von Kooperation und OER

Dabei können Hochschulen durch den Einsatz digitaler Technologien auf verschiedenen Ebenen profitieren. Dazu gehören auch zunehmende Kooperation und Austausch, die die gemeinsame Entwicklung erfolgreicher Konzepte, wie digitaler Plattformen, sowie passender Lerninhalte ermöglichen. Dies wird auch durch die Verwendung von offenen Lizenzen gefördert, die wiederum die Umsetzung neuer Lernszenarien unterstützen.

Birgit Fingerle ist Diplom-Ökonomin und beschäftigt sich in der ZBW unter anderem mit Innovationsmanagement, Open Innovation, Open Science und aktuell insbesondere mit dem "Open Economics Guide". (Porträt: Copyright

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