Citizen Science: Interview mit Dr. Katrin Vohland über  Vorteile, Barrieren und Entwicklung bürgerbeteiligter Forschung

Dr. Katrin Vohland ist Citizen-Science-Expertin am Museum für Naturkunde in Berlin. Sie ist unter anderem Teil der Projektleitung der deutschen Citizen-Science-Plattform „Bürger schaffen Wissen“ sowie Executive Chair der europäischen Allianz ECSA (European Citizen Science Association). Im Interview erläutert sie die aktuelle und zukünftige Rolle von Citizen Science im Wissenschaftssystem und zeigt die Potentiale auf, die in der Partizipation der Zivilgesellschafft stecken, aber auch welche Barrieren noch zu überwinden sind.

Welchen Bezug haben Sie zu Citizen Science?

Zu Citizen Science bin ich persönlich über die Biodiversitätsforschung gekommen. Wir haben uns damit beschäftigt, wie die ehrenamtlichen Naturforschenden besser unterstützt werden können, und wie eine größere Transparenz über die damals entstehenden Portale erreicht werden könnte. Einige, wie z.B. der Dachverband der Deutschen Avifaunisten (DDA), haben gezielt Monitoringdaten erhoben, die sich auch wissenschaftlich auswerten lassen; bei anderen stand die Bewusstseinsschärfung für Natur stärker im Vordergrund. Einige haben Werkzeuge zur Visualisierung der Daten angeboten, andere haben die Daten für die Unterstützung von Naturschutzpolitik genutzt. Na, und dann wurden diese Aktivitäten stärker mit dem englischen Begriff Citizen Science belegt, und Politik und Fördereinrichtungen begannen sich dafür zu interessieren.

Meiner Einschätzung nach ist Citizen Science ein interessanter Zugang zu unserer Wissensgesellschaft, und daher habe ich mich gerne daran beteiligt, den Mehrwert von Citizen Science nicht nur für Wissenschaft, sondern auch für andere gesellschaftliche Bereiche zu diskutieren und Ressourcen für die Durchführung von Citizen-Science-Aktivitäten aufzubauen. Diese Aktivitäten haben wir mit verschiedenen Partnern insbesondere im Dialogprojekt BürGER schaFFen WiSSen durchgeführt, die zur Entwicklung einer Citizen-Science-Strategie für Deutschland, einer Handreichung zur Durchführung von Projekten und weiteren Ressourcen geführt hat.

Insgesamt lässt sich wohl konstatieren, dass das Bedürfnis nach Partizipation steigt. Dem tragen wir auch am Museum Rechnung, indem wir uns insgesamt stärker mit partizipativen Formaten befassen und beispielsweise auch in dem EU-Projekt Doing-it-together-Science DITOs damit, mit welcher Intensität Bürgerinnen und Bürger in Forschung eingebunden werden können und wollen – als Besucher von Veranstaltungen oder als Mitforschende im Sinne von Citizen Science.

Worum geht es in der deutschen Citizen-Science-Plattform „Bürger schaffen Wissen“?

Die Plattform baut zum einen auf den Überlegungen zu den Portalen auf, dass die potentiellen Mitstreiter wissen, was sie erwartet, wenn sie sich an Projekten beteiligen möchten. Da wir die Plattform gemeinsam mit Wissenschaft im Dialog betreiben, können wir stark auf deren kommunikative Expertise zurückgreifen. Die Webseite hat sich zu einer zentralen Informationsplattform entwickelt, auf der sich Projekte präsentieren und Ressourcen wie beispielsweise Filme zur Verfügung gestellt werden. Sie dient der Bekanntmachung von Citizen Science in breitere Kreise, beispielsweise über Newsletter, Wettbewerbe oder Interviews.


Organisationsdiagramm

Eine Analyse der Projekte auf der Plattform hat gezeigt, dass nicht nur eine Vielzahl an Institutionen vertreten ist, über Universitäten und außeruniversitäre Forschungseinrichtungen bis hin zu Vereinen und sogar einem Fernsehsender als Projektbetreiber, sondern auch die verschiedensten natur-, sozial- und geisteswissenschaftlichen Disziplinen.

Gibt es vergleichbare Plattformen in Europa?

Im deutschsprachigen Raum sind es Österreich forscht und Science|Cité. Im englischsprachigen internationalen Raum sind vor allem Zooniverse, SciStarter und die Citizen Science Allianz zu nennen, aber es entstehen zunehmend auch nationale Plattformen, wie z.B. “Iedereen Wetenschapper” in den Niederlanden.

Neben den Plattformen entstehen auch internationale Netzwerke, wie beispielsweise ECSA, aber auch CSA in den USA und ACSA in Australien.

Welche Vorteile bietet Citizen Science?

Citizen Science kann den unterschiedlichen Akteuren viele Vorteile bieten. Die Forschung kann von Daten profitieren, die sie nicht selber erheben kann, von Ideen zu Forschungsprojekten bis hin zu Interpretationsangeboten. Bürgerinnen und Bürger selber können profitieren, indem sie Einblick in wissenschaftliche Prozesse erhalten und sich an einem Diskurs beteiligen können. Wichtige Anreize bilden auch die Möglichkeit zu lernen, etwas Sinnvolles zu tun und die Freizeit mit Gleichgesinnten zu verbringen.

Es sollte aber nicht unterschätzt werden, dass die Vorteile nur zum Tragen kommen, wenn sich alle Beteiligten gegenseitig ernst nehmen und schätzen, und für die entsprechenden Kommunikationsprozesse auch genügend Zeit und Ressourcen eingeplant werden.

Welche Rolle spielen Ihrer Meinung nach Infrastruktureinrichtungen wie Museen und Bibliotheken in Citizen Science? Wie können diese Einrichtungen Citizen Science unterstützen?

Infrastrukturen bieten ja wichtige Ressourcen an. Bibliotheken dienen allen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern als Informationsquelle, auch den Bürgerwissenschaftlern. Museen haben ja nochmal eine besondere Rolle, da sich dort normalerweise Forschung und Wissenstransfer aufbauend auf der Arbeit an den verschiedenen Sammlungen verbinden. Letztlich geht ja die Entwicklung der institutionalisierten Wissenschaft aus der Bürgerwissenschaft hervor.

Das Museum für Naturkunde Berlin beispielsweise baut mit seinen Sammlungen auf Aktivitäten von Forschern auf, die man nach heutigen Maßstäben als Privatleute oder ehrenamtlich Tätige bezeichnet hätte, etwa der adelige Forschungsreisende Johannes Centurius Graf von Hoffmannsegg, der Prediger Johann Friedrich Wilhelm Herbst und der Mediziner Wilhelm Adolph Gerresheim. Die Sammlungen dieser und vieler weiterer ehrenamtlicher Forscher bilden eine wichtige Säule des Sammlungsschatzes des Museums für Naturkunde Berlin.

Aktuell treffen sich fünf Fachgesellschaften am Museum für Naturkunde Berlin, um gemeinsam Forschung zu betreiben, Exkursionen durchzuführen oder sich zu Fachvorträgen zu versammeln. Die Fachgesellschaften profitieren von den Infrastrukturen wie beispielsweise den Räumlichkeiten, den Möglichkeiten, die Sammlung unterzubringen, aber auch von Online-Zugängen zu Datenbanken. Und das Museum profitiert von der Verbindung zu verschiedenen gesellschaftlichen Akteuren und auch von den Vermittlungsaktivitäten der Fachgesellschaften wie beispielsweise Vorträgen und Ständen zur Langen Nacht der Wissenschaft.

Wie sehen Sie den Bezug von Citizen Science zu Open Science?

In der grundsätzlich stark an großen wissenschaftlichen Infrastrukturen orientierten Open-Science- Strategie der Europäischen Kommission soll Citizen Science ja eine wichtige Rolle spielen, insbesondere als Bindeglied in die Gesellschaft hinein. Andersherum profitiert die Citizen Science Community von vielen technischen Entwicklungen auf der Ebene von Open Science, die beispielsweise die Speicherung und kollaborative Auswertung von Daten erleichtern. Zudem teilen die Communities teilweise ähnliche Werte: Open Access ist ein wichtiges Schlagwort der Open Science Community und findet sich auch in den Prinzipien zu guter Praxis in Citizen Science von ECSA wieder.

Auch die Entwicklung der Altmetrics kommt den Citizen-Science-Aktivisten entgegen: Es wird zunehmend möglich, auf Datensätze und nicht nur auf komplette Paper zu referieren, und die meisten Citizen-Science-Aktivitäten finden ja in der Phase der Datenerhebung statt.

In welchen Phasen der Forschung ist die Einbindung von Bürgerinnen und Bürgern besonders sinnvoll? Welche Erfahrungen gibt es dazu bisher?

Dass die meisten Aktivitäten in der Phase der Datenerhebung stattfinden, kommt nicht von ungefähr: Hier gibt es etablierte Workflows, inklusive Qualitätssicherung, und verschiedene Umfragen unter Bürgerinnen und Bürgern zeigen auch, dass sie sich selber stark in der Rolle der Datenerhebung sehen.

Eine weitere wichtige Phase ist die der Entwicklung der Fragestellung. Je näher die wissenschaftliche Frage an der direkten Lebensrealität der Beteiligten ist, desto wichtiger wird das, beispielsweise im Rahmen der Nachhaltigkeitsforschung. Hier kann die Citizen Science Community methodisch stark von der transdisziplinären Forschung profitieren, die Methoden zur Einbindung verschiedener Stakeholder entwickelt hat. In diesem Bereich gibt es Überschneidungen beispielsweise zur Aktionsforschung, deren Anspruch auch die Verbesserung der jeweiligen Lebensumstände ist.

Häufig sind Bürgerinnen und Bürger in die Auswertung eingebunden, insbesondere bei digitalen Projekten, in denen es teilweise auch um Mustererkennungen geht. Hier gibt es fließende Übergänge zum CrowdSourcing oder auch zu den spielerischen Ansätzen (Gaming), in denen den Beteiligten manchmal gar nicht klar ist, dass sie gerade Forschungsdaten produzieren.

Weniger häufig sind Bürgerinnen und Bürger in die Entwicklung des konkreten Projektdesigns und die Kommunikation eingebunden. Ob das sinnvoll ist oder nicht, hängt sowohl von den konkreten Fragestellungen als auch von den Kompetenzen, Interessen und Ressourcen der Beteiligten ab.

Welche Projekte würden Sie als besonders herausragend bezeichnen?

Eines meiner Lieblingsprojekte ist Tauchen für den Naturschutz. Hier haben sich zwei Communities, nämlich Taucher und Naturschützer, die nicht notwendigerweise eine Einheit bilden, zusammengetan. Die Taucher haben sich in das Thema der Pflanzenwelt der Klarwasserseen eingearbeitet und tragen nun zum Monitoring dieser Seen bei. Das Projekt hat mittlerweile auch einige Preise bekommen.

Mir macht es auch Spaß, wenn ich mal mit Orion, unserer entomologischen Fachgesellschaft am Museum, unterwegs bin, und ich finde es beeindruckend, mit welcher Kenntnis und Engagement sie zur Kenntnis und zum Schutz der Insekten beitragen.

Auch die Aktivitäten der Aktion Münsterland finde ich sehr spannend. Das war eine der ersten Universitäten in Deutschland, die sich strategisch mit Citizen Science auseinandergesetzt haben und nun stark über gemeinsam mit Bürgerinnen und Bürgern konzipierte Projekte auch Teil der Regionalentwicklung sind.

Welches sind in Europa Ihrer Meinung nach die größten Barrieren für Citizen Science?

Es wird Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern nicht ganz leicht gemacht, Citizen-Science- Projekte zu betreiben, da es wenig Anerkennungsmechanismen gibt. Einige berichten sogar, dass es sich negativ auf ihr Standing unter Kolleginnen und Kollegen auswirkt. Und de facto muss ja auch zumindest Zeit investiert werden, um ein Citizen-Science-Projekt aufzubauen, durchzuhalten und mit entsprechender Rückkopplung zu den Beteiligten zu betreiben.

Wie wollen Sie diesen Barrieren mit der ECSA (European Citizen Science Association) begegnen?

ECSA ist ein europäischer Verein mit mittlerweile etwas mehr als 200 institutionellen und persönlichen Mitgliedern, der sich die Stärkung und wissenschaftliche Begleitung von Citizen Science zur Aufgabe gemacht hat. Ich denke, ein wichtiger Punkt zum Abbau von Barrieren sind positive Beispiele, die zeigen, wie Projekte funktionieren können. Weiterhin spielt das Vertrauen in die Verfahren eine wichtige Rolle.

Die Prinzipien guter Praxis von Citizen Science, die betonen, dass es um echte Wissenschaft, also das Generieren neuen Wissens geht, aber auch Ansprüche an die Art der Zusammenarbeit zwischen den Beteiligten stellen, sind mittlerweile in 26 (!) Sprachen übersetzt.

ECSA bietet neben der Webseite und Newslettern die Möglichkeit der Vernetzung der Akteure an. Die erste internationale ECSA-Konferenz im Jahr 2016 in Berlin hat gezeigt, welch großes Potential in Citizen Science steckt. Hier wurde ganz stark die Wissenschaft adressiert. Wir planen gerade die zweite internationale ECSA Konferenz, 2018 in Genf, in der dann die Bürgerinnen und Bürger stärker im Mittelpunkt stehen sollen.

Wie sieht die Citizen-Science-Landschaft in Deutschland beziehungsweise Europa in zehn Jahren aus?

Ich gehe davon aus, dass Citizen Science ein „normaler“ Teil der wissenschaftlichen Landschaft werden wird. Da die Idee, originär Forschung zu betreiben und die eigenen Anliegen wissenschaftlich anzugehen, zunehmend auch Eingang in schulische Curricula nimmt, wird es selbstverständlicher, strukturiert Informationen zu sammeln und Daten zu erheben und diese zu bewerten, insbesondere unter dem Aspekt der Nachhaltigkeit. Die Open-Science-Bewegung wird dazu beitragen, diese Informationen und Daten zugänglicher zu machen.

Allerdings ist zu bedenken, dass es teilweise auch um ökonomisch relevante Beträge und damit um konkurrierende Interessen geht, und „open“ in dem Zusammenhang nicht unbedingt „umsonst“ meint. Es wird also weiterhin wichtig sein, dass Gelder für Forschung und Forschungsinfrastrukturen über demokratisch legitimierte Kanäle verteilt werden, und die entsprechenden Ergebnisse in geeigneter Form für die unterschiedlichen Anspruchsgruppen aus Wissenschaft, Gesellschaft und Politik zugänglich sind.

Was sind die derzeit wichtigsten wissenschaftspolitischen Entwicklungen im Kontext Citizen Science?

Citizen Science erlebt zwar gerade einen großen Aufschwung, erreicht aber letztlich doch nur Teile der Gesellschaft. Es gibt einen Bias hin zu akademisch gebildeten Beteiligten. Citizen Science eröffnet aber eine wichtige Möglichkeit der gesellschaftlichen Teilhabe, weil wir in einer Wissenschaftsgesellschaft leben. Nicht nur in Deutschland, sondern auch international wird unter dem Schlagwort Inklusion diskutiert, wie benachteiligte gesellschaftliche Gruppen über Citizen Science an gesellschaftlichen Prozessen teilhaben können. Das betrifft beispielsweise bildungsferne Schichten und Migranten, aber auch Länder in Ost- oder Südeuropa.

Im Rahmen der COST Action „Citizen Science to promote creativity, scientific literacy, and innovation throughout Europe“ untersuchen wir, wie diese Anschlussbereiche an Bildung, Politik und Engagement funktionieren können. Dafür ist auch gerade die COST-Action ein spannendes Instrument, weil diese Inklusionsziele, insbesondere im Hinblick auf Geographie, Alter und Geschlecht, Teil des Finanzierungsmechanismus sind.

Damit eng verknüpft sind auch die Fragen der Beziehung von Citizen Science zu dem Ansatz Verantwortlicher Forschung und Innovation (RRI-Responsible Research and Innovation) sowie dem bereits angesprochenen Open-Science-Ansatz. In Bezug auf RRI wirkt Citizen Science zum Teil unterstützend, weil über entsprechende Aktivitäten weite Teile der Bevölkerung am wissenschaftlichen Prozess teilhaben können. Aber andersherum muss sich auch die Citizen Science Community mit ethischen Fragen auseinandersetzen, was beispielsweise Barrieren der Teilhabe oder den Umgang mit Daten angeht.

Weiterführende Informationen:

Birgit Fingerle ist Diplom-Ökonomin und beschäftigt sich in der ZBW unter anderem mit Innovationsmanagement, Open Innovation, Open Science und aktuell insbesondere mit dem "Open Economics Guide". (Porträt: Copyright

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