Open Science in der Praxis: Offene Doktorarbeit

Auch wenn Open Science derzeit große Aufmerksamkeit erfährt, und die Öffnung der Forschung generell als richtiges und richtungsweisendes Modell für ein Wissenschaftssystem der Zukunft erachtet wird, so sieht es bei der konkreten Umsetzung von Open-Science-Prinzipien in der Praxis mitunter recht schwierig aus. Die Gründe dafür sind sehr unterschiedlich: Teilweise „lohnt“ es sich einfach nicht für die wissenschaftliche Karriere, oder die Hürden erscheinen noch zu groß. Doch es gibt auch Forschende, die als Pioniere einfach ausprobieren, wie gelebte offene Forschung aussehen kann, und sich somit zugleich für die Akzeptanz und Verbreitung von Open-Science-Prinzipien einsetzen.

Christian Heise ist so ein Pionier. Seine Doktorarbeit, die er kürzlich am Centre for Digital Cultures der Leuphana Universität Lüneburg abgeschlossen hat, behandelt nicht nur das Thema Open Science, sondern ihr gesamter Erstellungsprozess wurde möglichst offen gestaltet. Dazu gehörte, dass der aktuelle Stand seiner schriftlichen Ausarbeitung jederzeit einsehbar war.


Hier schildert er uns seine Erfahrungen:

Was war das Thema Deiner Doktorarbeit?

Ziel der Arbeit war die Darstellung, Analyse und experimentelle Verhandlung der Annahmen und Definitionen rund um offene wissenschaftliche Erkenntnisprozesse. Eine meiner Annahmen war: Der freie Zugang zu den finalen wissenschaftlichen Ergebnissen (Open
Access) markiert eine Übergangsphase, die dazu führen kann, dass sich der gesamte wissenschaftliche Erkenntnisprozess (Open Science) öffnet.
Dazu habe ich mich mit der historischen Entwicklung der wissenschaftlichen Kommunikation und ihrer Digitalisierung beschäftigt und habe dann untersucht, welches Interesse die Wissenschaftler selbst an dieser Entwicklung haben und wie das gelebte Verhalten ist.
Außerdem habe ich mir dann noch angesehen, was die Treiber und Bremser in diesem Veränderungsprozess sind.




Wie bist Du auf die Idee gekommen, die Doktorarbeit offen zu schreiben?

Neben der theoretischen Auseinandersetzung und einer Befragung wollte ich mich auch praktisch dem Thema so gut es ging nähern. Meine wissenschaftliche Herangehensweise sollte sich nicht nur auf das Ergebnis rein intellektueller Tätigkeit beschränken, sondern auch ein Ergebnis praktischen Tuns und Handelns sein.

Im Verlauf der Erstellung der Arbeit wollte ich so meine Vorannahmen den praktischen Gegebenheiten im wissenschaftlichen Alltag gegenüberstellen und diese in einer Art Selbstexperiment genauer untersuchen. Ich wollte verstehen, welcher Aufwand und welche Hürden durch die Öffnung der formellen Kommunikation für Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen tatsächlich entstehen.

Wie hast Du den Prozess der offenen Doktorarbeit organisiert?

Der aktuelle Stand meiner Arbeit sollte zu jedem Zeitpunkt nachvollziehbar sein. Von Beginn an war die jeweils aktuelle Entwurfsversion der Arbeit über das Internet einsehbar. Zusätzlich habe ich mein Vorgehen in einem Blog dokumentiert und auch alle Daten meiner Arbeit unmittelbar nach Erhebung und Anonymisierung frei zum Download bereitgestellt. Die gesamte Arbeit und all ihre Anhänge und Daten standen dafür unter einer offenen Lizenz (CC-BY-SA).

Welche Tools/Anwendungen/sozialen Netzwerke hast Du eingesetzt?

Ich habe viele Anwendungen ausprobiert. Eine kleine Übersicht findet sich auch in meiner Arbeit. Leider hatte ich immer wieder mit technischen Herausforderungen zu kämpfen. Ohne programmiertechnische Grundkenntnisse wäre ich nicht in der Lage gewesen, dem eigenen Anspruch an das offene Verfassen der Doktorarbeit (inklusive Zitationsverwaltung, Versionskontrolle, Datenvisualisierungen usw.) gerecht zu werden.

Zum Beispiel war meine Doktorarbeit für GoogleDocs schnell zu lang und selbst professionelle, wissenschaftliche Schreibplattformen wie authorea.com waren schnell mit dem Umfang des Textes und der Darstellung aller Daten überfordert, also musste am Ende eine eigene Lösung her. Diese habe ich mir im Verlauf der Arbeit gebaut und sie nach meinen eigenen Bedürfnissen erweitert. Grundlage waren andere, bereits bestehende Dienste (wie GitHub), Anwendungen (wie zum Beispiel Datawrapper) und Standards (LaTeX).

Allerdings haben sich seit Beginn meiner Arbeit die Möglichkeiten für das digitale wissenschaftliche Publizieren stark verbessert. Vor allem in den letzten zwei Jahren sind eine Vielzahl an Tools und Applikationen entwickelt und veröffentlicht worden, die die digitale Veröffentlichung von wissenschaftlichen Inhalten im Internet sehr vereinfacht haben.

Was hat Dich überrascht?

Es war recht lange unklar, ob diese offene Erstellung überhaupt rechtlich erlaubt und mit der Promotionsordnung vereinbar ist. So darf eine Doktorarbeit bei Abgabe zum Beispiel noch nicht veröffentlicht sein, “zum Glück” galt in meinem Fall das Internet noch nicht ohne weiteres als formell anerkannter Veröffentlichungsort für wissenschaftliche Kommunikation.

Diesen und anderen rechtlichen Herausforderungen im Rahmen der Vereinbarkeit mit dem auf den Druck der finalen Publikation ausgelegten Prozess der Erstellung einer Doktorarbeit konnte ich erst nach einiger Zeit der Prüfung durch meine Universität mit einer schriftlichen Ausnahmeregelung der Promotionskommission begegnen. Dass das so viel Zeit in Anspruch nehmen würde, hat mich überrascht.

Glaubst Du, dass das offene Schreiben der Doktorarbeit Dir eher Vorteile oder eher Nachteile gebracht hat?

Stellt man die gewohnte wissenschaftliche Arbeitsweise dem offenen Erstellungsprozess meiner Arbeit gegenüber, so muss die Arbeit auf dem lokalen Computer (selbst bei der Verwendung internetbasierter Dienste) in einem geschlossenen Umfeld noch immer als um vieles einfacher als das öffentliche Verfassen einer Arbeit bewertet werden – das ist sicher (noch immer) ein eklatanter Nachteil. Das hat zum einen mit den gewohnten und etablierten strukturellen, technischen sowie rechtlichen Umgebungen wissenschaftlicher Arbeit zu tun, die mit der offenen Darstellung und Verbreitung von Inhalten überwiegend inkompatibel sind. Letztendlich waren für mich jedoch durch die offene Schreibweise bisher weder fundamentale Vorteile noch unlösbare Hürden für den publizierenden Wissenschaftler oder die Wissenschaftlerin erkennbar.

Insgesamt war das offene Schreiben für mich persönlich vorteilhaft. Vor allem die Aufmerksamkeit für die offene Schreibweise der Doktorarbeit in meinem direkten Umfeld war groß, und ich habe viel Zuspruch und emotionale Unterstützung erhalten. Inhaltlich hatte das zwar kaum Effekte, dennoch stieg die Anzahl der regelmäßigen Nachfragen bezüglich des Bearbeitungsstandes der Arbeit. Der soziale Druck, die Arbeit fertigzustellen, und die Unterstützung haben mir sehr geholfen. Rückblickend hätte ich diese Arbeit ohne diese Unterstützung wohl nicht beendet.

Ein weiterer Vorteil: Die Reichweite dieser Arbeit und der dazugehörigen Daten übersteigt schon jetzt die von Arbeiten, die geschlossen erstellt wurden. Weitere Experimente mit offener Forschungsarbeit sind allerdings notwendig, um zu evaluieren, welche weiteren fundamentalen Vorteile und welche weiteren Herausforderungen, neben den in der Arbeit genannten, die Öffnung der Kommunikation für die Wissenschaft und die Öffentlichkeit mit sich bringt.

Ich bin weiterhin der festen Überzeugung, dass eine Öffnung bei fast allen wissenschaftlichen Erkenntnisprozessen erstrebenswert, machbar und sinnvoll ist.

Würdest Du wieder so vorgehen?

Ja, definitiv.

Was würdest Du jemandem, raten, der so vorgehen möchte?

Ziel meiner Doktorarbeit war auch die Ableitung konkreter Handlungsempfehlungen aus meinen Erfahrungen beim offenen Verfassen wissenschaftlicher (Qualifikations-)Arbeiten.

Ich habe 10 Empfehlungen abgeleitet, die für das Verfassen offener wissenschaftlicher Arbeiten vielleicht hilfreich sein können. Ein ganz persönlicher Rat: Keine Angst vor Offenheit.

 

Autor: Christian Heise ist Politologe, in den letzten Zügen seiner Promotion zum Thema Open Science am Centre for Digital Cultures an der Leuphana Universität Lüneburg, arbeitet im Moment als Manager beim Google Digital News Initiative (DNI) Innovation Fund und lehrt im Studiengang “Digital Media” an der Leuphana Universität/Hamburg Media School. Zuvor war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Hybrid Publishing Lab der Leuphana Universität, sowie als Manager bei der Deutschen Presse Agentur und bei ZEIT ONLINE tätig. Neben seiner ehrenamtlichen Tätigkeit als Vorstandsvorsitzender der Open Knowledge Foundation Deutschland ist er auch Gründungs- und Vorstandsmitglied im Förderverein für freie Netzwerke e.V..

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