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im Interview mit Nicole Ebber und Holger Plickert

Bibliotheken befinden sich seit vielen Jahren im Wandel hin zu digitalen Infrastruktureinrichtungen. Es gilt, den Prozess zur Digitalisierung und damit verbunden den kulturellen Wandel zu Open Science bestmöglich zu bewältigen und trotzdem die altehrwürdigen bibliothekarischen Tugenden zu bewahren. Die internationalen Wikimedia-Organisationen wie Wikimedia Deutschland oder die Wikimedia Foundation in den USA haben mit Bibliotheken also viel gemein. Man könnte sie als Partnerinnen aus dem Ökosystem des freien Wissens bezeichnen.

Nicole Ebber hat den Prozess zur Entwicklung der Transformation hin zu Wikimedia 2030 mit einem internationalen Team geleitet. Holger Plickert arbeitet im Team Bildung, Wissenschaft und Kultur von Wikimedia Deutschland seit Jahren an Kooperationsprojekten, welche die Communitys des freien Wissens mit Institutionen wie Bibliotheken zusammenbringen. Heute verraten sie uns, was ihre großen Aha-Momente bei der Strukturreform waren und was Bibliotheken von Wikimedia lernen können.

Die Strategieentwicklung für Wikimedia 2030 hat nun nach über zwei Jahre entscheidende Ergebnisse erzielt. Wie soll/kann Wikimedia 2030 also aussehen?

Herausgekommen sind 10 Empfehlungen und 10 Prinzipien, die das Wikimedia-Movement der Zukunft beschreiben: Wikimedia wird diverser, freundlicher, partizipativer, gleichberechtigter und globaler. Es werden sich mehr Menschen, Maschinen und Organisationen von überall auf der Welt beteiligen und ihr Wissen einbringen, Wissen weiterentwickeln und weitergeben. Wikimedia wird das Fundament für die weltweite und gerechte Verbreitung von Wissen. Wir haben uns viel vorgenommen, und können das natürlich nicht alleine schaffen, sondern nur gemeinsam mit Partnerinnen und Partnern aus dem Ökosystem des freien Wissens.

Was habt ihr im Strategieprozess von Wikimedia 2030 als die großen Herausforderungen für den Kulturwandel hin zu freiem Wissen identifiziert? Wie wollt ihr es schaffen, sie zu überwinden?

Westliche Formate für Wissen, einschließlich Wikipedia, sind nicht sonderlich gut dafür geeignet, das nicht aufgeschriebene Wissen marginalisierter Gruppen zu erfassen. Unsere Communitys sind nicht divers genug, um auch Diversität im Wissen abbilden zu können. In unserer Bewegung haben wir gewachsene Strukturen, die Ungleichheit und die ungerechte Verortung von Entscheidungen und Ressourcen perpetuieren. Dies sind nur ein paar der Herausforderungen, die jetzt durch die Strategie und die Strukturreform angegangen werden sollen.

Des Weiteren agieren wir auf vielen Ebenen ständig dafür, dass Inhalte unter freier Lizenz veröffentlicht werden, zum Beispiel auch in den Bereichen offener Bildungsmaterialien und offener Wissenschaft. Wir setzen uns außerdem national und regional für rechtliche und politische Rahmenbedingungen (PDF) ein, die ein freies und offenes Internet überhaupt erst möglich machen. Und mit Wikidata haben wir ein Projekt, welches das Wissen der Welt in strukturierter Form zugänglich macht, und auch hier arbeiten wir oft mit kulturellen Einrichtungen und Organisationen zusammen, die mit ihren Daten den großen, freien Datenschatz weiter anreichern.

Wie könnt ihr sicherstellen, dass das Wissen, das ihr bereitstellt beziehungsweise das bei euch generiert wird, seriös ist? Was macht ihr gegen Fake News?

Wir machen direkt nichts gegen Fake News, außer dass wir in unseren Projekten dafür sorgen, dass Fakten immer mit Referenzen belegt sind, und Leute so wissen, dass das Wissen “seriös” ist. Dennoch sind Wikipedia und Wikidata nicht perfekt, und werden es auch nie sein. Der wichtigste Kontrollfaktor ist die Community, die nach lang etablierten Regeln zu Relevanz und Referenzen arbeitet. Wikipedia und die anderen Wikimedia-Projekte sind die letzten gallischen Dörfer des Internets, virtuelle Orte und Communitys, die nicht von Profitinteresse oder politischen Interessen bestimmt sind. Dies wird auch immer so bleiben, und trägt zur Verlässlichkeit und dem guten Ruf unserer Inhalte bei.

Des Weiteren müssen wir uns auch Gedanken machen, was denn alles unter “seriöses” Wissen fällt, und wie wir marginalisierte und bildungsferne Gruppen beteiligen können.“Fakten prüfen im Netz”, welches wir mit der Zentral- und Landesbibliothek Berlin entwickelt haben, zahlt auf dieses Ziel ein. Hier werden Menschen mit einfachen Tipps versorgt, wie sie Informationen aus dem Internet einordnen können, um nicht auf Fake News hereinzufallen.

Wo seht ihr Gemeinsamkeiten und Überschneidungen von modernen Bibliotheken/Infrastruktureinrichtungen und Wikimedia?

Die schönste Gemeinsamkeit ist ganz klar der kollaborative Aspekt. Die Wikimedia-Projekte werden von Communitys getragen. Bibliotheken versuchen ebenfalls, Communitys um ihre Häuser herum zu installieren. Sie sollen in die Häuser hineinwirken, aber auch mit ihrem eigenen Erfahrungshintergrund das gesamte Haus oder Team des Hauses bereichern. So werden neue Perspektiven möglich, und auch marginalisiertes Wissen kann sichtbar gemacht werden. Ein aktuell wichtiges Thema ist im Umfeld von Bibliotheken die Öffnung nach außen. Schlagwort ist hier “Bibliothek als Dritter Ort”: als Lernort, einfach und für alle niederschwellig zugänglich. Dort gemeinsam lernen, sich vernetzen, sich austauschen und Projekte ausprobieren. Eigentlich wie im Wikimedia-Movement, nur lokaler verortet.

Darüber hinaus der “Wertewandel” innerhalb der Institution. Bibliotheken begreifen sich mehr und mehr als Dienstleister des Wissens und der Information, bilden eine lokale Plattform zur Weiterbildung und Recherche. Die technische Ausstattung wird besser, mehr ins Netz verlagert und mit dem Netz verknüpft. Sie unterstützen die Menschen bei ihrer Meinungsbildung und leisten so ihren Beitrag zur Ausbildung von digitalen Kompetenzen (digital literacies).

Viele Bibliotheken und Archive haben außerdem im letzten Jahrzehnt ihre Bestände digitalisiert. Das heißt aber noch nicht, dass damit Zugang für alle entstanden ist. Da können wir helfen, indem wir Inhalte in unsere Projekte integrieren, oder indem wir durch Wikidata und Wikibase die Daten über Inhalte organisieren und die Inhalte dadurch zugänglich, suchbar, und semantisch verknüpfbar werden.

Es gibt auch immer Ideen, um marginalisiertes Wissen gemeinsam in die Wikimedia-Projekte zu bringen. Bibliotheken haben die Digitalisate und Sammlungen, und gemeinsam mit den Freiwilligen der Wikimedia-Community erstellen sie entsprechenden Content.

Eine eurer Visionen ist es, bis 2030 die wichtigste Infrastruktur im Ökosystem des freien Wissens zu sein. Was genau bedeutet das? Wie wollt ihr das schaffen?

Das bedeutet, dass wir definieren müssen, was denn eigentlich dieses Ökosystem ist, und welche Lebewesen sich da aufhalten. In der Praxis heißt das, wir müssen mit vielen Akteurinnen und Akteuren Partnerschaften eingehen, die noch Wissen haben, welches nicht allen Menschen zugänglich ist: Bildungs-, Forschungs-, und Kulturinstitutionen, Museen, Bibliotheken, Archive.

Wir müssen auf der politischen Ebene agieren, und dafür sorgen, dass mit öffentlichen Mitteln gefördertes Wissen zu öffentlichem Gut wird. Und wir müssen, über Länder- und Sprachgrenzen hinweg, unser globales Movement miteinander verknüpfen, und gerechte und solidarische Strukturen schaffen.

Ihr sagt außerdem, dass jede und jeder, der/die diese Vision teilt, sich euch anschließen kann. Wie könnte das im Fall einer Bibliothek konkret aussehen?

Wir haben bereits zahlreiche Kooperationen mit Bibliotheken, formelle und informelle. Wikipedia- und Wikidata-Beitragende nutzen seit jeher Bibliotheken, um Referenzen für Artikel und Wikidata Items zu recherchieren. Die Wikidata zugrundeliegende Software Wikibase ist in den letzten Jahren für Bibliotheken sehr interessant geworden, da sie sich als Repositorium für Meta-Daten über Sammlungen hervorragend eignet. So nutzt die Deutsche Nationalbibliothek eine Wikibase-Instanz, und es wird erwogen, die Gemeinsame Normdatei auch in Wikibase zu überführen. Die französische Nationalbibliothek sowie die Smithsonian Libraries arbeiten mit uns an ähnlichen Projekten. Durch den freien Zugang zu den Daten über Sammlungen können neue Wissenscommunitys und Wissensallmenden entstehen, und die Daten können mit Wikidata verknüpft werden.

Ein schönes Beispiel der Zusammenarbeit ist das Programm 1Lib1Ref eine internationale Kampagne, die Bibliothekarinnen und Bibliothekare dazu befähigen und ermuntern soll, Literaturangaben und Einzelnachweise in Wikipedia-Artikeln zu ergänzen, um so den Zugang zu verlässlicher Literatur zu verbessern.

Wie kann es gelingen, ein offenes und kooperatives Ökosystem des freien Wissens mit zuverlässigen Partnerinnen und Partnern wie Bibliotheken zu erschaffen und erhalten?

Wikimedia-Projekte sind von Freiwilligen getragen. Wir haben seit Jahren Formate, durch die Freiwillige mit Kultur- und Wissensinstitutionen zusammengebracht werden, und gemeinsam daran arbeiten, Inhalte zugänglich zu machen, neu zu nutzen, in die Wikimedia-Projekte oder neuen Bevölkerungsgruppen nahe zu bringen. Dazu gehören Coding Da Vinci, GLAM on Tour, KulTour, Zugang Gestalten und andere. Wikidata und Wikibase werden zunehmend von Bibliotheken genutzt, und machen damit ihre Metadaten zugänglich. Wir freuen uns auf Kooperationsprojekte in der Zukunft.

Weitere Informationen

Wir sprachen mit Nicole Ebber und Holger Plickert

Nicole Ebber ist Leiterin Movement Strategy & Global Relations bei Wikimedia Deutschland e. V. Dort gestaltet sie die strategische Zusammenarbeit mit dem globalen Netzwerk an Wikimedia-Organisationen. Sie leitet Projekte zur internationalen Governance und Umsetzung der globalen Strategie, um zukünftig noch mehr Menschen den Zugang zu noch mehr befreitem Wissen zu sichern. Nicole ist Informationswirtin und hat ihre Diplomarbeit 2007 über Creative-Commons-Lizenzen geschrieben.

Holger Plickert, M.A., ist Projektmanager Kultur und Community bei Wikimedia Deutschland e.V. Zuvor arbeitete er unter anderem für die Stiftung Preußische Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg und die Kulturquartier Mecklenburg-Strelitz gGmbH. In seiner jetzigen Funktion versteht er sich als Bindeglied zwischen den Freiwilligen der Wikimedia-Projekte und den Kultur- und Gedächtnisinstitutionen. Er studierte an der Freien Universität Berlin und der FernUniversität Hagen Geschichte und Politikwissenschaft.

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