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Quasi „über Nacht“ können disruptive Innovationen ganze Branchen umkrempeln. Vormals überlegene Technologien und Anbieter werden bedeutungslos, wenn sie die Zeichen der Zeit nicht erkennen – oder nicht erkennen wollen. Denn wirklich überraschend war die Entwicklung aus historischer Perspektive zumeist nicht. Eine Gefahr auch für Bibliotheken?

In dem 1997 veröffentlichten „Klassiker“ des Innovationsmanagements „The Innovator’s Dilemma“ zeigt der renommierte US-amerikanische Wirtschaftswissenschaftler Clayton M. Christensen im historischen Vergleich von Anbietern verschiedener Technologien in verschiedenen Branchen die Dynamik disruptiver Innovationen. Im Sommer 2014 wurde Claytons Konzept der disruptiven Innovation methodisch angegriffen. So oder so illustriert „The Innovator’s Dilemma“ sehr anschaulich die Gefahr disruptiver Innovationen, etwa anhand verschiedener Technologien im Schiffbau. Dieses mahnende Beispiel habe ich beim Bibliothekartag in Bremen in unserem Workshop zu Science 2.0 erläutert. Vielleicht ist es auch generell für Bibliotheken interessant?

1902 lief mit der Thomas W. Lawson das größte jemals gebaute Segelschiff ohne Hilfsantrieb vom Stapel. Der einzige Siebenmaster überhaupt. Eine Meisterleistung der Schiffsbaukunst. 1907 kenterte sie. Mit ihr ging eine ganze Branche unter,  und das Dampfschiff löste das Segelschiff ab.

Hersteller von Segelschiffen schafften den notwendigen Technologiesprung nicht, obwohl sich der Aufstieg des Dampfschiffes über Jahrzehnte hinweg zog. 1783 wurde das erste funktionsfähige Dampfschiff gebaut, aber erst Jahrzehnte später konnten Dampfschiffe mit Segelschiffen mithalten. Ursprünglich waren Dampfschiffe den Segelschiffen klar unterlegen. Segelschiffhersteller hörten auf ihre Kunden, die Dampfschiffe ursprünglich nicht gebrauchen konnten, weil sie zunächst als ungeeignet für Ozeanfahrten galten, und verschliefen daher die Entwicklung. Dampfschiffe konnten zunächst nur in der Binnenschifffahrt Fuß fassen, hatten hier aber Vorteile, da sie z.B. bei Windstille fahren können. Segelschiffhersteller ignorierten diesen aus ihrer Sicht „minderwertigen“ Markt und setzten stattdessen auf eine zunehmende Perfektionierung ihrer Technologie – bis es eines Tages zu spät war.

Ein Einzelfall? Betrifft uns der Schiffbau?

Die historische Entwicklung im Schiffbau ist nur ein Beispiel dafür, welches Schicksal alteingesessene, erfolgreiche Anbieter treffen kann. „In nur zwei von sechs neuen Hardware-Technologien nimmt das vormals führende Unternehmen auch im nächsten Technologiezyklus eine dominierende Rolle ein.“ (Christensen, 2011: S. 5). Typisch ist das folgende Muster: Disruptive Technologien „liegen zunächst noch weit hinter der Leistungsfähigkeit einer evolutionären Technologie zurück, können aber über die Zeit durchaus volle Wettbewerbsfähigkeit erlangen.“ (Christensen, 2011: S. 7) Anbieter, die sich alleine auf das verlassen, was ihre bestehenden Kunden wollen, werden im Falle disruptiver Innovationen regelmäßig in die Irre geführt, weil diese die zunächst „minderwertige“ Technologie nicht einsetzen wollen. Ähnliches ließ sich auch in anderen Branchen beobachten, wie bei der Ablösung der Analog- durch die Digitalkamera und den – bei Christensen sehr ausführlich behandelten – immer kleiner werdenden Computerlaufwerken.

Potentiell besteht diese Gefahr disruptiver Innovationen auch für Bibliotheken, insbesondere durch immer wieder neu auftauchende Online-Angebote. Auch wenn etwa Wissenschaftler-Netzwerke und andere spezielle Science 2.0-Angebote bislang wissenschaftliche Bibliotheken nicht überflüssig machen, sollten sie im Auge behalten werden. Es ist wichtig, aufmerksam zu sein und neue, möglicherweise noch unterlegene Angebote nicht voreilig als irrelevant einzustufen.

Literatur: Clayton M. Christensen; Kurtz Matzler, Stephan Friedrich von den Eichen; The Innovator’s Dilemma – Warum etablierte Unternehmen den Wettbewerb um bahnbrechende Innovationen verlieren; Vahlen, München, 2011
 
Autorin: Birgit Fingerle (ZBW – Leibniz-Informationszentrum Wirtschaft; Soziale Medien, Stabsstelle Innovationsmanagement)

 

Cover-Bild: Flickr – amphalon (CC BY-NC-SA 2.0)

Birgit Fingerle ist Diplom-Ökonomin und beschäftigt sich in der ZBW unter anderem mit Innovationsmanagement, Open Innovation, Open Science und aktuell insbesondere mit dem "Open Economics Guide". (Porträt: Copyright

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